Gebrochene Seelen auf stürmischer See

"Peter Grimes" in Starbesetzung an der Wiener Staatsoper

     Von Hannah Klug / Wunderbare Welt der Oper

                   10. Februar 2022


(C) Michael Pöhn / Wiener Staatsoper

                       Einleitung


 Ich hätte nicht vermutet, dass mich Benjamin Brittens Oper Peter Grimes so fesseln und mitnehmen würde und den Wunsch auslösen würde, die Musik und die tragische und berührende Geschichte dieses Außenseiters, der von der eigenen Dorfgemeinschaft in den Selbstmord getrieben wird, immer wieder zu erleben. Die Musik entfacht einen unglaublichen Sog, erzeugt einen Rausch, dem sich niemand entziehen kann., weder die Musiker im Orchestergraben noch die Sänger auf der Bühne und genauso wenig die Zuschauer im Saal. Die Erzählung ist bedrückend, das Schicksal der Figuren, die an der schroffen englischen Küste um Exsistenz, Ansehen, Macht und ihre Position in der Gesellschaft kämpfen, ist erschreckend und erschütternd zugleich. Benjamin Britten zeigt uns die kalte und erbarmungslose Welt, in der die drei Hauptfiguren und John sich immer wieder behaupten müssen. In Teil zwei meiner Werkeinführung habe ich genau zu dieser schwierigen und aussichtslosen Situation meine Gedanken niedergeschrieben und ausgeführt, welche menschlichen Verhaltensweisen diese Reihe von Umständen auslösen, die letztendlich zu der Katastrophe führen, mit der das Musikdrama von Benjamin Britten endet. Abgesehen von der fesselnden Musik und einem erschütternden Plot trug natürlich vor allem die hochkarätige Besetzung im Orchestergraben und auf der Bühne dazu bei, dass die

Wiederaufnahme an der Wiener Staatsoper zu einem umjubelten Erfolg wurde und dem Haus am Ring fünf weitgehend ausverkaufte Vorstellungen bescherte.

(C) Michael Pöhn / Wiener Staatsoper

Simone Young, das Orchester der Wiener Staatsoper, der Chor der Wiener Staatsoper und das gesamte Ensemble


 Bevor ich zu den drei überragenden Hauptdarstellern komme, muss ich auf jeden Fall noch einige Worte zum Orchester, der Ausnahmedirigentin Simone Young, dem Chor der Wiener Staatsoper sowie der Leistung des großartigen Ensembles sagen. Nicht zuletzt muss selbstverständlich noch der Arnold Schönberg Chor erwähnt werden, der die Vorstellungen Nr. 2 & 3 , die für einen spätere Ausstrahlung aufgezeichnet wurden, durch seinen großen Einsatz und die kurzfristige Unterstützung gerettet hat. Der Stammchor der Wiener Staatsoper hat in den letzten Jahren eine erfreuliche Entwicklung genommen und trug in großem Maße zum Erfolg der Wiederaufnahme von Peter Grimes bei. Eine Person hat mich ganz besonders beeindruckt in dieser Vorstellungsserie - die Frau am Pult der Wiener Staatsoper, Simone Young! Eine faszinierende Künstlerin, die durch ihre Tätigkeit im Orchestergraben alle Blicke auf sich zog. Die erfahrene Dirigentin, die allein in Wien über 200 Vorstellungen geleitet hat, führte ihre Musiker, aber auch die Solisten und den Chor sicher und sehr aufmerksam durch die anspruchsvolle Partitur. Die große Leidenschaft für die Musik und speziell für dieses Werk ist ihr jederzeit anzumerken. Während der zahlreichen Orchesterzwischenspiele waren all die Stimmungen zu spüren, die Gefühle der Figuren, das Leben an der rauhen Küste, das stürmische Wetter, die zahlreichen Unwägbarkeiten und das unabwendbare Schicksal der Menschen. Die Wiener Philharmoniker dafür als Opernorchester zur Verfügung zu haben, ist natürlich der größte Luxus, den man sich wünschen kann. Zudem war das Ensemble in dieser Wiederaufnahme sehr gut besetzt und komplettierte das Trio der Hauptdarsteller perfekt. Noa Beinart (Auntie), Ileana Tonca und Aurora Marthens (zwei 'Nichten'), Thomas Ebenstein (Bob Boles), Wolfgang Bankl (Swallow), Stephanie Houtzeel (Mrs. Sedley), Carlos Osuna (Reverend Horace Adams), Martin Häßler (Ned Keene), Erik van Heyningen (Hobson). In der letzten Vorstellung musste die Besetzung ein wenig geändert werden. Die stumme Rolle von Grimes' Gehilfen John übernahmen im Wechsel unterschiedliche Mitglieder der Ballettakademie der Wiener Staatsoper. Die jungen Darsteller nahmen ihre Aufgabe sehr ernst und vermittelten das Schicksal von John auf eine sehr glaubwürdige Weise.

(C) Michael Pöhn / Wiener Staatsoper

         KS Bryn Terfel - Kapitän Balstrode


 Die Partie des Rauhbeins Kapitän Balstrode, der sein Herz am rechten Fleck trägt, ist Sir Bryn Terfel, wie es korrekt heißen muss, wie auf den Leib geschrieben. Zum ersten Mal in seiner Karriere verkörperte der weltweit erfolgreiche Opernsänger die Rolle  bereits im Jahre 1995, also vor mittlerweile 27 Jahren. Viele Gelegenheiten, in die Figur des Kapitäns und einzigen Freundes der Titelfigur zu schlüpfen, hatte der 56-Jährige allerdings nicht. Peter Grimes gehört auch heute bedauerlicherweise nicht gerade zu den Werken, die jedes Jahr an einem oder gar mehreren Opernhäusern zur Aufführung kommen. Das Jahr 2022 dürfte in der Tat eine Ausnahme sein. Nach der Wiener Staatsoper, der Bayerischen Staatsoper gibt es auch am Royal Opera House in London Gelegenheit, Benjamin Brittens Musikdrama zu erleben. Im letzgenannten Haus übernimmt der Bassbariton die Rolle im März ein weiteres Mal. In der Inszenierung von Christine Mielitz konnte der sympathische Künstler all seine Stärken ausspielen: die beeindruckende Bühnenpräsenz, die gewaltige und ausdrucksstarke Stimme, sein darstellerisches Können. Der erfahrene Seemann ist, abgesehen von der Lehrerin Ellen Orford, der einzige Freund von Peter Grimes, der bis zum bitteren Ende zu ihm hält und die aufgebrachte Gemeinschaft, zumindest für eine gewisse Zeit, zurückhält. Bryn Terfel ist in der Lage, seine Stimme sehr variabel einzusetzen, kann ihr gleichermaßen eine erstaunliche Leichtigkeit sowie Kraft und Stärke verleihen Alles klingt mühelos und elegant. Sein Balstrode ist das Gewissen und die mahnende Stimme der egoistischen und selbstgefälligen Gemeinschaft, die sich zum Richter gegen einen einzelnen Menschen aufspielt, um ihre eigenen Unzulänglichkeiten zu vertuschen. Auch wenn die Partie des Kapitäns darstellerisch nicht ganz so viele Möglichkeiten für eine tiefgründige Interpretation wie andere Rollen bietet, verlieh der walisische Bassbariton seiner Figur seine ganz persönliche Note und einen eigenen und starken Charakter.

(C) Michael Pöhn / Wiener Staatsoper

            Lise Davidsen - Ellen Orford


 Die norwegische Sopranistin gehört zu den neuen strahlenden Sternen am Opernhimmel. Lise Davidsen ist eine der großen, jungen Wagnerstimmen unserer Zeit und hat hoffentlich eine lange und erfolgreiche Karriere vor sich. Neben Wagner gehören ebenso Beethoven, Strauss oder Grieg zu ihrem Repertoire und seit kurzem auch Benjamin Britten. Die Rolle der Ellen Orford an der Wiener Staatsoper im Januar/ Februar ist ihr jüngstes Debüt auf der Opernbühne. Als nächstes steht die Wiederaufnahme der "Ariadne auf Naxos" von Richard Strauss an der Met in New York auf dem Programm der fleißigen Künstlerin. Die Partie der Lehrerin und Witwe in Brittens Musikdrama hat sich die 35-jährige Opernsängerin mit der beeindruckenden Stimme und dem Gardemaß von 1,88 m mit jeder Vorstellung zunehmend zu eigen gemacht. Mit viel Einfühlungsvermögen und Sensibilität hat sie den Charakter ihrer Figur entwickelt und mit zahlreichen kleinen Details versehen. Ellen Orford ist die Seele der bigotten Gemeinschaft, ein Engel der Schwachen, Hilflosen und Ausgestoßenen, wie es Peter Grimes ist. Sie liebt den Fischer und setzt sich mutig auch gegen die Interessen der Gruppe für ihn ein. Ebenso liegt ihr John, der Gehilfe von Peter Grimes, am Herzen, sie will ihm ein besseres und sichereres Leben bieten. Ihre Mission scheitert am Ende auf tragische Weise. Ellen Orford bleibt nichts anderes übrig, als in ihr altes Leben zurückzukehren. Lise Davidsen erzählte die Geschichte ihrer Figur ausgesprochen einfühlsam, mit viel Tiefgang und Authentizität. Sie schenkte dem Publikum viele bewegende Augenblicke, die zu Tränen rührten, wie beispielsweise ihre wunderschöne Embroidery-Arie aus dem dritten Akt oder den Moment, als Ellen Orford und Balstrode den verzweifelten Peter Grimes zusammengesunken über seinem toten Gehilfen John finden. Die Stimme der norwegischen Sopranistin bietet alles, was man sich nur wünschen kann: strahlende Höhen, dramatische Ausbrüche, zarte Piani (wenn auch noch etwas spärlich gesät) und eine Bandbreite an menschlichen Emotionen, die in jedem Moment zu spüren sind. Die Ausnahmekünstlerin hat die fünf Vorstellungen von Brittens Meisterwerk zu einem ganz besonderen Erlebnis gemacht und den Zuschauern in der Wiener Staatsoper Musikgenuss auf höchstem Niveau beschert.

(C) Michael Pöhn / Wiener Staatsoper

        KS Jonas Kaufmann - Peter Grimes


 Da ich mich auch jetzt wieder entschlossen habe, eine Zusammenfassung der fünf Vorstellungen zu schreiben, muss hier auch von der stärksten Entwicklung in dieser Wiederaufnahme gesprochen werden. Jonas Kaufmann, der in Wien sein weltweites Rollendebüt als Peter Grimes gab, hat sich wie immer sehr viele Gedanken über die Figur und den Menschen gemacht, den er hier verkörpert. Diese gedankenvolle Interpretation trug dann auch zu einer sehr authentischen und berührenden Darstellung bei. So sagt der deutsche Weltstar u.a. über die Titelfigur: "Für mich ist Peter Grimes letztlich nicht schuldfähig. Durch den Druck, den die Gesellschaft gegen ihn aufbaut, bricht er vollkommen zusammen und gleitet in eine Schizophrenie, die den Jungen letztendlich das Leben kostet."

Genau diese Problematik nimmt der Opernsänger als Grundlage für seine tiefgründige Interpretation, die er bis ins Detail ausgearbeitet hat. Der englische Fischer, der aus ungeklärten Gründen zum Außenseiter der kleinen Dorfgemeinschaft wurde und nur zwei Menschen an seiner Seite hat - den alten Kapitän Balstrode und die verwitwete Lehrerin Ellen Orford - ist erfolgreich in seinem Beruf aber im sozialen Umgang unterentwickelt. Peter Grimes ist nicht in der Lage, Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen, ist voller Frust und Zorn, die sich immer wieder in gewaltvollen Handlungen entladen. Er ist ein psychisch sehr labiler Mensch und damit das perfekte Opfer für die heuchlerische Gemeinschaft, in der er lebt und die selbst kaum fähig ist, ihre eigenen Unzulänglichkeiten zu erkennen. Jonas Kaufmann nahm die Zuschauer mit in die Welt dieses gebrochenen Menschen, der am Ende keine andere Chance sieht, als in den Tod zu gehen und in der Bedeutungslosigkeit einer butalen und erbamungslosen Gesellschaft zu versinken. Jonas Kaufmann spielte mit seiner Stimme, transportierte mit ihr die unzähligen widersprüchlichen Gefühle, die seine Figur immer wieder durchlebt: Wut, Zorn, Verzweiflung, Schmerz, Trauer oder Reue. Der Ausnahmesänger war - bis auf die erste Vorstellung - jedes Mal auf den Punkt genau da. Kraftvolle und verzweifelte Ausbrüche im Forte, strahlende Höhen, unglaublich zarte und zerbrechliche Piani, vor allem in den langen a capella Phasen während der Wahnsinnsszene. Hinzu kam wie immer eine perfekte Textverständlichkeit.

(C) Michael Pöhn / Wiener Staatsoper

Um die unglaublich starke Ausdruckskraft und die überragende Darstellung von Jonas Kaufmann aufzuzeigen, möchte ich die Wahnsinnsszene heranziehen. Der deutsche Weltstar lässt sich gänzlich auf den Charakter ein, den er verkörpert, taucht tief in dessen Gefühlswelt ein, schafft immer wieder eine tiefe Verbindung mit der Musik, zu seinem Publikum, den Kollegen auf der Bühne. In Kombination mit seiner Stimme, die alle Gefühle widerspiegelt, wirken diese doppelt verstärkt und besonders intensiv.

Die verzweifelte und von Schmerz erfüllte Klage Peter Grimes' gehörte zu den besonders berührenden Augenblicken jeder Vorstellung. Tief ergriffen lauschten die Zuhörer im Saal den Worten des Ausnahmesängers und erlebten die unendliche Verzweiflung eines Menschen, der langsam in eine Schizophrenie abdriftet und immer mehr in seiner eigenen Welt versinkt, unerreichbar für alle äußeren Einflüsse. Hin- und hergerissen zwischen Trauer und Tränen und einer starken und tiefen Reue wird Peter Grimes immer wieder erschüttert von Halluzinationen und kurzen Ausbrüchen, in denen er sich auch selber verletzt, um irgendwie seine seelischen Qualen ertragen zu können. Den Wahnsinn im Blick, rauft sich Peter Grimes die Haare, wirkt verwirrt, verloren, isoliert, ohne Ausweg, ohne Hoffnung - ein zutiefst gequälte Seele im Meer der Unendlichkeit.

Dann hält er den toten Lehrjungen nur noch in den Armen, liegt wimmernd und weinend über dem leblosen Körper, als wollte er ihn vor der grausamen Welt beschützen. Dabei erklingen immer wieder die ergreifenden Ausrufe "Peter Grimes, Peter Grimes, Peter Grimes". Als Kapitän Balstrode und Ellen Orford den Fischer finden, ist er für sie nicht mehr zu erreichen. Der Aufforderung, sein Boot zusammen mit dem toten Lehrjungen John und sich selbst zu versenken, folgt er nur noch wie  ferngesteuert. Ob er genau weiß, was er tut, ist aber zu beweifeln.

Ich verneige mich tief vor dieser herausragenden Leistung von Jonas Kaufmann und einem hundertprozentig gelungenen Rollendebüt. Ich freue mich schon sehr, ihn wieder in dieser Partie zu erleben. Fürs Erste wünsche ich ihm aber eine kleine Phase der Erholung und im Anschluss viel Freude bei der CD-Aufzeichnung der "Turandot" mit Sir Antonio Pappano und einem ebenso erfolgreichen Rollendebüt als Calaf am 12. März bei der konzertanzten Aufführung von Puccinis letzter Oper im Parco della Musica in Rom, von der ich mit Freude berichten werde.

(C) Michael Pöhn / Wiener Staatsoper

                      Resümee


Am Ende jeder dieser fünf bewegenden und aufwühlenden Vorstellungen von "Peter Grimes" gab es den überaus begeisterten und hochverdienten Applaus des Wiener Publikums und natürlich auch der zahlreichen deutschen und europäischen Opernfans, die angereist waren, um diese hochkarätig besetzte Wiederaufnahme zu sehen. Alle an dieser Produktion Beteiligten auf der Bühne und im Orchestergraben nahmen erleichtert, dankbar und sehr glücklich die große Anerkennung der Zuschauer im ausverkauften Haus entgegen. Über die Ehrung im Anschluss an die dritte Vorstellung habe ich bereits in einem gesonderten Beitrag berichtet. Für mich endete am 8. Februar eine spannende Reise in die Welt von Benjamin Britten und seiner faszinierenden, packenden und zutiefst beeindruckenden Musik mit einer Sängerbesetzung, von der man oft nur träumen kann, und musikalisch so hochkarätig, wie man sie nur selten zu hören bekommt. Ich bin sehr dankbar, dass ich all diese wunderbaren Momente in einer meiner Lieblingsstädte und mit zahlreichen lieben deutschen und österreichischen Freunden in einem der besten und führenden Opernhäuser in Europa. erleben durfte. Am 06. März hat das Musikdrama von Benjamin Britten in einer Neuproduktion von Stefan Herheim bei uns an der Bayerischen Staatsoper in München Premiere. Die Titelpartie übernimmt hier Stuart Skelton, die Rolle der Ellen Orford wird von Rachel Willis-Sørensen verkörpert. Ich werde zu gegebener Zeit in einem Beitrag über diese Neuinszenierung berichten.

Bis dahin passt gut auf Euch auf und bleibt mir gesund!

(C) Michael Pöhn / Wiener Staatsoper


           Musik macht das Herz weich

            Ganz still und ohne Gewalt

          macht sie die Tür zur Seele auf

                 

                         (Sophie Scholl)